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Für ein Mädchen ganz gut

REAM ist Teil der Graffiti-Gruppe „Altona Female Crew“(AFC). Weltweit ist AFC eine der wenigen Gruppen,
die allein aus Frauen besteht und eine lange Geschichte hat. Sie gründete sich 1996 in Hamburg-Altona.

 

Text von Simon Hanl, Fotos von Daniel Nide

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Sie hat eine Spraydose in der Hand, trägt ein weißes T-Shirt und schwarze Plastikhandschuhe. Auf St. Pauli gegenüber der Davidwache betrachtet sie mit zur Seite geneigtem Kopf wortlos ihr soeben gemaltes Werk. Sie tritt ein paar Schritte zurück, in geschwungenen, gelben Lettern auf lila Grund steht an der Wand ihr Künstlername: REAM. Sie tritt erneut an die Wand heran und sprayt die Buchstaben AFC hinzu. Sie guckt kritisch, greift zur lila Dose und überdeckt damit die Buchstaben wieder. Sie malt sie erneut hin. Schließlich entspannen sich ihre Gesichtszüge, sie zieht die Handschuhe aus und lächelt. Für heute ist REAM fertig.

AFC ist REAMs Graffiti-Gruppe, die Altona Female Crew. Die Gruppe gibt es seit mehr als 20 Jahren. Sie besteht ausschließlich aus Frauen, REAM hat sie mit gegründet. Heute nimmt das Sprayen im Leben von REAM noch immer eine gewichtige Rolle ein.

Mit 14 Jahren, an ihrer ehemaligen Schule hat REAM ihre Leidenschaft entdeckt. Es ist die Zeit der 1990er Jahre am Gymnasium Altona. Die Wände der Turnhalle tragen eine zentimeterdicke Lackschicht, täglich kommen neue Formen, Buchstaben und Bilder hinzu. Von den Lehrern toleriert, geht es schon in den Pausen los, im Hinterhof, an der sogenannten Hall of Fame. Das Malen von Graffiti wird zu einer Jugendszene. Und die Sprühdose erhält Einzug in die Welt von REAM. „Zwei, drei Jungs sind backen geblieben und in meine Klasse gekommen. Sie haben gesketcht, das habe ich mir abgeguckt.“, erklärt sie. Sketchen, das Anfertigen von Skizzen auf Papier, hat sie häufig nebenbei im Unterricht geübt. Bald darauf malt sie ihr erstes Graffiti. REAM entwickelt ihre Begeisterung für das Sprayen. Von ihrer Mutter bekommt sie die ersten Dosen geschenkt. „Es waren die Farben schwarz, rot, giftgrün und gold“, zählt sie auf. „Ich habe mich wahnsinnig gefreut.“

REAM lernt an ihrer Schule schnell die wenigen Mädchen kennen, die sich ebenfalls an der Sprühdose austoben möchten. Ihre Freundinnen nennen sich Wave, Venus und Shiva. Zusammen bilden sie selbstbewusst die Altona Female Crew. „Wir sind aus Altona, Mädels und eine Gang. Der Name hat sich richtig angefühlt“, erläutert REAM. „Andere Mädchen waren bei Greenpeace, doch hier am Gym waren wir die Prols“, ergänzt sie und lacht.

 

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Namen sind wichtig im Graffiti, sie schaffen eine zweite Identität. „REAM ist taffer, während ich sonst ein normaler Mensch bin, der auch sensibel sein darf.“, sagt sie und übersetzt: „To ream s.b. heißt jemanden über den Tisch ziehen.“ Doch sie mag den Namen vor allem wegen des Klangs und der optisch ansprechenden Buchstaben, die Bedeutung sei zweitrangig. Graffiti malende Frauen sind zu der Zeit die absoluten Ausnahmen. An der Turnhalle der Schule gibt es eine Hackordnung, es geht nicht nur um das kunstvolle Ausgestalten von Schriftzügen und Bildern, sondern auch darum, sich einen Namen zu machen und Respekt zu erlangen. Als Frau hat REAM es deutlich schwerer, da die Codes und Regeln der Szene männlich dominiert sind. Die Jungs an der Schule schließen sie aus, wollen nicht zusammen mit den Mädchen malen. Eine Graffiti-Crew trägt den Namen King Size Dicks. REAM erzählt, dass ein Graffito von ihnen übermalt wurde, „mit Sperma und Schwänzen, weil wir Mädels waren.“ Das wollte sich die Mädchengruppe nicht gefallen lassen. Am nächsten Tag haben sie in der Pause die sexistischen Bilder mit den Worten „Fuck you“ gekontert. Das hat REAM und ihre Freundinnen an der Schule fast zwangsläufig zusammengeschweißt. Die Ablehnung durch die Jungs hat zur Gründung von AFC geführt. „Keiner wollte mit uns spielen, also haben wir alleine unser Ding gemacht.“

Wenige Meter von der Schule entfernt, nahe der Elbchaussee befindet sich der Fischers Park. REAM steht heute, an einem Novembermorgen inmitten der Grünanlage, es gibt einen Basketballplatz, Spielanlagen, Bänke und eine Wiese. Blätter wehen umher, Jogger laufen vorbei, Eltern schieben ihre Kinderwagen durch den Park. REAM erzählt von der damaligen Graffitiszene, die hier einen ihrer wichtigsten Treffpunkte hatte. Davon ist heute nur ein kleines, etwas abseitiges Toilettenhäuschen mit dicker Lackschicht und bunten Schriftzügen übriggeblieben. REAM fährt prüfend mit den Fingern über die Wand: „In den 1990ern gab es hier zwei Häuschen mit Bandübungsräumen, Graffiti wurde geduldet.“ Nach der Schule ist sie oft mit ihren Freunden und einem Ghettoblaster lautstark zum Fischers Park gezogen. Hier trifft sie auf Gleichgesinnte und ältere, männliche Szenegrößen. Hier lernt sie beim Basketballspielen und Graffiti malen, bei Alkohol, Gras und HipHop-Musik ihren Freund kennen, der auch sprayt und sich ENTER nennt. „Die Altonaer Homeboys waren qualitativ ganz weit vorne. Das waren meine Vorbilder.“, legt REAM dar und gestikuliert mit dem Arm. Selbstbewusst steht sie inmitten der beschaulichen Parkszenerie. „Wir waren immer ein harter Mob, die Rebellen. Das fand ich spannend.“, sagt sie und zeigt auf durch Pflanzenbewuchs etwas versteckte Bänke: „Dort haben wir Party gemacht, immer 30 bis 40 Leute.“

 

In der Graffitiszene wird Risikobereitschaft häufig mit Anerkennung belohnt. REAM war selten an illegalen Aktionen beteiligt. Die harte Strafverfolgung wirkte abschreckend. „Das wollte ich meiner Mutter nicht antun“, sagt sie nachdenklich, „Eine Ausbildung, ein Job, finanzielle Unabhängigkeit waren mir genauso wichtig.“ REAM hatte zudem das Gefühl, sie sei nicht gut genug und daher lohne sich das Risiko für sie nicht: „Deswegen bin ich keine richtige Sprüherin. Ich bin eine Hobbymalerin.“ Doch trotzdem kann sie von nächtlichen Aktionen berichten. Voller Adrenalin ist sie einmal im sogenannten Altonaer Yard, in den Abstellgleisen nahe des Bahnhofs von einem Bahnangestellten mit Steinen beschmissen worden und konnte entkommen.

 

Ein paar Straßenzüge vom Park entfernt befindet sich zudem an einer Hausfassade ein altes Graffiti mit den Buchstaben AFC, direkt daneben ein Schriftzug der King Size Dicks, von denen sie an der Schule zunächst nicht akzeptiert wurden. Ein Szenecodex verbietet aus Respekt das Übermalen älterer Werke, deswegen sind sie heute immer noch vorhanden. In einer Nacht vor ungefähr 20 Jahren sind beide Gruppen, Jungs und Mädchen, gemeinsam zum Malen losgegangen, erinnert sich REAM. Denn nach einiger Zeit hat sie sich Respekt erarbeitet, auch bei den Jungs.

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„Für ein Mädchen ist das schon ganz gut.“ Diesen Spruch hat REAM häufig von männlichen Graffitimalern gehört, er missfällt ihr. „Entweder ist das Graffiti gut oder es ist nicht gut.“, verdeutlicht sie ihre Haltung. Sie möchte Gleichbehandlung und betont, dass viele männliche Kollegen mittlerweile vorurteilsfrei mit ihr zusammen arbeiten. So wurde REAM in der über-geschlechtlichen Gruppe Boogie Down Altona aufgenommen. Sie erinnert das als ihren persönlichen Ritterschlag. Die Szene hat sich aus ihrer Sicht verändert: „Es wird mittlerweile akzeptiert, dass Frauen nicht anders sind. Mit ihnen kann man auch Spaß haben.“ Jedoch scheint es noch immer für viele Männer etwas besonderes zu sein, dass eine Frau Graffiti malt. Als sie neulich auf der Reeperbahn öffentlich mit Sprühdosen eine Wand gestaltete, wurde sie darauf oft angesprochen und fotografiert. Sie wundert sich: „Wahnsinn, dass es heutzutage noch immer etwas besonderes ist, eine Frau sprühen zu sehen.“

Sie bekräftigt, dass die Gruppe AFC auch später keine Männer aufnehmen wollte. Es geht um die Wahrung der Identität. „Wir sind eigenständige Frauen“, sagt REAM. Teil einer Graffitigruppe zu sein, bedeutet für sie eine selbstgewählte Familie zu haben: „Die Crew ist was ernstes, sie bedeutet bedingungsloser Rückhalt.“

Vor einiger Zeit feierten die Frauen von AFC ihren 20ten Geburtstag als Gruppe. Zusammen mit dem Freundeskreis haben sie eine Party veranstaltet und sich in Altona getroffen, um gemeinsam zu malen. REAM zieht an der Zigarette und blickt aus dem Fenster ihrer Wohnung. Unter ihr rumpeln die Züge übers Gleisbett. Sie mag die Geräuschkulisse. REAM lächelt breit: „Für mich hat sich nicht viel geändert. Ich mache Graffiti, weil es doch albern wäre mit Sachen aufzuhören, die Spaß bringen.“

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