Namen sind wichtig im Graffiti, sie schaffen eine zweite Identität. „REAM ist taffer, während ich sonst ein normaler Mensch bin, der auch sensibel sein darf.“, sagt sie und übersetzt: „To ream s.b. heißt jemanden über den Tisch ziehen.“ Doch sie mag den Namen vor allem wegen des Klangs und der optisch ansprechenden Buchstaben, die Bedeutung sei zweitrangig. Graffiti malende Frauen sind zu der Zeit die absoluten Ausnahmen. An der Turnhalle der Schule gibt es eine Hackordnung, es geht nicht nur um das kunstvolle Ausgestalten von Schriftzügen und Bildern, sondern auch darum, sich einen Namen zu machen und Respekt zu erlangen. Als Frau hat REAM es deutlich schwerer, da die Codes und Regeln der Szene männlich dominiert sind. Die Jungs an der Schule schließen sie aus, wollen nicht zusammen mit den Mädchen malen. Eine Graffiti-Crew trägt den Namen King Size Dicks. REAM erzählt, dass ein Graffito von ihnen übermalt wurde, „mit Sperma und Schwänzen, weil wir Mädels waren.“ Das wollte sich die Mädchengruppe nicht gefallen lassen. Am nächsten Tag haben sie in der Pause die sexistischen Bilder mit den Worten „Fuck you“ gekontert. Das hat REAM und ihre Freundinnen an der Schule fast zwangsläufig zusammengeschweißt. Die Ablehnung durch die Jungs hat zur Gründung von AFC geführt. „Keiner wollte mit uns spielen, also haben wir alleine unser Ding gemacht.“
Wenige Meter von der Schule entfernt, nahe der Elbchaussee befindet sich der Fischers Park. REAM steht heute, an einem Novembermorgen inmitten der Grünanlage, es gibt einen Basketballplatz, Spielanlagen, Bänke und eine Wiese. Blätter wehen umher, Jogger laufen vorbei, Eltern schieben ihre Kinderwagen durch den Park. REAM erzählt von der damaligen Graffitiszene, die hier einen ihrer wichtigsten Treffpunkte hatte. Davon ist heute nur ein kleines, etwas abseitiges Toilettenhäuschen mit dicker Lackschicht und bunten Schriftzügen übriggeblieben. REAM fährt prüfend mit den Fingern über die Wand: „In den 1990ern gab es hier zwei Häuschen mit Bandübungsräumen, Graffiti wurde geduldet.“ Nach der Schule ist sie oft mit ihren Freunden und einem Ghettoblaster lautstark zum Fischers Park gezogen. Hier trifft sie auf Gleichgesinnte und ältere, männliche Szenegrößen. Hier lernt sie beim Basketballspielen und Graffiti malen, bei Alkohol, Gras und HipHop-Musik ihren Freund kennen, der auch sprayt und sich ENTER nennt. „Die Altonaer Homeboys waren qualitativ ganz weit vorne. Das waren meine Vorbilder.“, legt REAM dar und gestikuliert mit dem Arm. Selbstbewusst steht sie inmitten der beschaulichen Parkszenerie. „Wir waren immer ein harter Mob, die Rebellen. Das fand ich spannend.“, sagt sie und zeigt auf durch Pflanzenbewuchs etwas versteckte Bänke: „Dort haben wir Party gemacht, immer 30 bis 40 Leute.“
In der Graffitiszene wird Risikobereitschaft häufig mit Anerkennung belohnt. REAM war selten an illegalen Aktionen beteiligt. Die harte Strafverfolgung wirkte abschreckend. „Das wollte ich meiner Mutter nicht antun“, sagt sie nachdenklich, „Eine Ausbildung, ein Job, finanzielle Unabhängigkeit waren mir genauso wichtig.“ REAM hatte zudem das Gefühl, sie sei nicht gut genug und daher lohne sich das Risiko für sie nicht: „Deswegen bin ich keine richtige Sprüherin. Ich bin eine Hobbymalerin.“ Doch trotzdem kann sie von nächtlichen Aktionen berichten. Voller Adrenalin ist sie einmal im sogenannten Altonaer Yard, in den Abstellgleisen nahe des Bahnhofs von einem Bahnangestellten mit Steinen beschmissen worden und konnte entkommen.
Ein paar Straßenzüge vom Park entfernt befindet sich zudem an einer Hausfassade ein altes Graffiti mit den Buchstaben AFC, direkt daneben ein Schriftzug der King Size Dicks, von denen sie an der Schule zunächst nicht akzeptiert wurden. Ein Szenecodex verbietet aus Respekt das Übermalen älterer Werke, deswegen sind sie heute immer noch vorhanden. In einer Nacht vor ungefähr 20 Jahren sind beide Gruppen, Jungs und Mädchen, gemeinsam zum Malen losgegangen, erinnert sich REAM. Denn nach einiger Zeit hat sie sich Respekt erarbeitet, auch bei den Jungs.